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Blog 2021 - über's Leben

 

23.9.2021

Der weise Mann und der Tod

 

Wenn man in sein Leben zurückblickt, könnte sich leicht das Gefühl einstellen, dass man als Kleinkind in einen Haufen von riesigen Puzzlesteinen geworfen worden ist, durch den man sich im Laufe der Zeit hindurcharbeiten muss, und die dann im Laufe des Lebens immer kleiner werden. Das Puzzle nimmt mehr und mehr Kontur an, und plötzlich erblickt man darin Teile des eigenen Lebens. Und man stellt fest, dass das Leben aus zwei gleichen Teilen – dem Leben und dem Tod – besteht und einen permanenten Alterungsprozess darstellt, dem man sich jederzeit stellen sollte/muss. Denn nur ein Tod in Würde kann ein Leben in Würde abschließen. So hatte es mir mein Vater Robert Rüegg - Sohn einer jüdischen Mutter aus Ungarn (8.3.1920 bis 23.9.2008) vorgelebt, in dem er zeitlebens von den Eskimos schwärmte, bei denen die Großeltern eines  bestimmten Tages – dann, wenn die Zeit gekommen ist – aufstehen und Hand in Hand in den Schnee gehen. Voraussetzung dafür ist ein gesundes Leben – mein Vater war zeitlebens Asket – das man unter diesem Gesichtspunkt auch als Vorbereitung auf einen selbstbestimmten Tod sehen könnte. Jedenfalls hatte mein Vater bereits viele Jahre vor seinem Tod die verschiedensten Vorbereitungen für eine "reibungslose Übergabe" getroffen. Dazu gehörte das Verschenken seiner vielen tausend Bücher oder bestimmter Bilder, Möbel und anderer Gegenstände, die man sich noch zu Lebzeiten aussuchen (musste) und danach sein Eigen nennen konnte. Selbstverständlich war testamentarisch bereits alles geregelt, denn das Ende  eines Menschen sollte ja nicht der Anfang von Streitigkeiten unter Lebenden sein. Des Weiteren folgten Gespräche mit mir über das "Danach" – etwas, das ich damals überhaupt nicht verstehen konnte bzw. wollte. Es ist als Kind,und das bleibt man zeitlebens, praktisch unmöglich, die Eltern auch als selbständige Menschen, losgelöst von sich selber, zu sehen.

 

1956 erschien in Köln (unter dem Patronat des italienischen Dichters Alberto Moravia) die Dissertation meines Vaters über italienische Dialekte – „Sulla geografia linguistica dell' italiano parlato“ / Franco Cesati Editore – mit denen sich bis dato noch kein italienischer Sprachwissenschafter beschäftigt hatte. Sie wurde genau sechzig (!) Jahre später ins Italienische übersetzt und 2016 in der Villa Medici in Florenz (mit einer künstlerischen Umrahmung von meiner Tochter Naima, Lia Pale und mir) präsentiert. 1970 erschien sein Volkskundelebenswerk "Haussprüche und Volkskultur" mit einer akribisch genauen Sammlung und einer entsprechenden Interpretation von an die Tausend (Haus)Inschriften im Prättigau (Graubünden). Sein Wunsch für die Übernahme der Kartause von Nikolaus von der Flühe blieb ihm leider verwehrt. Mit fünfzig kehrte er dann dem "bürgerlichen" Leben den Rücken und wurde Therapeut auf Spendenbasis, wobei seine Traumdeutungen besonderen Eindruck hinterließen. Aber seine ganz große Leidenschaft war die Natur! 

 

Jedenfalls bat mich mein Vater schon drei Jahre vor seinem Tod, das Familienarchiv mit nach Wien zu nehmen. Er konnte sich problemlos von allem trennen, was ihm ermöglichte, sich besser auf den Tod vorzubereiten. Im Juli 2008, also knapp drei Monate vor seinem Tod, bat er mich um einen Text bei der Abdankung in der Kirche. Was ich ihm gerne versprach, aber trotzdem große Mühe damit hatte, wie gefasst, gelassen und natürlich er mit der Tatsache "Tod" umging.

Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt mental und emotional in einem guten Zustand, aber komplett abgemagert. Nach einem Telefonat mit seinem Hausarzt erklärte mir dieser, dass mein Vater physisch gesehen gar nicht mehr existieren könnte, nur sein Geist und sein Wille hielten ihn am Leben. Mein Vater hatte zu diesem Zeitpunkt nur noch fünfunddreißig kg (er hatte allerdings in seinem ganzen Leben nie mehr als fünfzig kg gewogen). Er hatte einfach aufgehört zu essen.      

Anfangs September hatte ich ihn im Krankenhaus besucht und mich von ihm verabschiedet. Kurz danach wurde er in ein Pflegeheim überstellt, wo er mit den Worten "Willkommen Herr Rüegg, wir machen sie wieder gesund!" überschwänglich empfangen wurde, worauf mein Vater trocken entgegnete, er sei aber zum Sterben hergekommen. Wenige Tage darauf verabschiedete er sich von seiner zweiten Frau und verstarb noch in derselben Nacht! So hatte mein Vater seinen Tod – ohne Fremdeinwirkung! – genauestens geplant und durchgeführt. Das große Finale eines außergewöhnlichen Menschen!

Doch am Tag darauf, als seine Frau Lily von seinem Tod erfuhr, trat Plan B in Kraft. Sie wusste genau, welches sechsseitige, mit 28 Punkten versehene Dokument sie nun zu öffnen hatte – von meinem Vater für sie so vorbereitet, dass sie einen einzigen Anruf machen musste – danach passierte alles quasi von selbst. Ca. 15 Personen waren bereits vorinformiert und wussten, was zu tun ist. So wurde seine Frau von fast allem Organisatorischem verschont und konnte ihre Energie für die Trauer aufwenden. Punkt für Punkt wird in diesem Dokument alles abgearbeitet. Die Briefumschläge für die zwei Traueranzeigen (in zwei Kategorien: nahe und ferne Bekannte/Verwandte) hatte er selber (!) beschriftet. Das Totenmahl hatte er wetterabhängig festgelegt, detto die Wahl des Restaurants bezogen auf die Anzahl der verfügbaren Parkplätze, wobei mein Vater Lokale sämtlicher Art sein ganzes Leben lang vermied. Das hatte ich nie verstanden, aber seit ich nichts mehr trinke, wächst das Verständnis dafür..:-) Selbst das Totenhemd war schon vororganisiert. Dann folgen alle juristischen und finanziellen Schritte sowie Anleitungen bezüglich des Altersheims für Lily. Samt der Telefonnummer eines Umzugsunternehmens dorthin. Doch der wahre Clou sollte dann bei der Abdankung (schweizerisch für kirchliche Bestattung) erfolgen, wobei mein Vater immer der Meinung war, dass man einer Person nur dann gerecht werden kann, wenn man beide Seiten, also die guten und schlechten von ihr kennt, bzw. akzeptiert. Und er fand es immer besonders unmöglich, dass jeder Mensch nach seinem Tod sofort zu einem Heiligen hochstilisiert wird, wie das so oft der Fall ist. Jedenfalls war die erste Trauerrede von einem Freund, die zweite dann von mir – ich hatte ausschließlich seine Sonnenseiten betont, und dann kam – natürlich! – der Nachruf von ihm selbst verfasst. Brillant, äußerst selbstkritisch und ohne jede Eitelkeit hat er sein Leben hinterfragt. Wien, 23.9.2021

mathias rüegg (Sohn)

 

Am 8. Dezember um 17:00 werden vier Lieder nach Texten von meinem Vater in der Schottenfeldkirche 1070 vom Chor Wien Neubau im Rahmen eines Adventkonzertes uraufgeführt

 

 

 

 

 

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